Fortschritt mit Nebenwirkungen
- Maja Hofmann

- 23. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Okt.

Ein Essay über Fortschritt, Kontrolle und das (verlorene) Gefühl, selbst zu lenken.
Samstagabend auf dem Sofa, auf Netflix läuft “Special Ops: Lioness”. Ein alter Chevy Truck rast über den Highway. Besetzt mit einer Spezialeinheit des CIA. Vor ihm ein Polizeiwagen, ein neuer Ford Explorer, und ein neuer Cadillac Escalade. Der Beifahrer des Chevy Trucks zieht eine Fernbedienung und löst ein EMP (Elektromagnetischer Impuls: Eine kurzzeitige, hochenergetische und breitbandige elektromagnetische Strahlung) aus. Die Fahrzeuge werden manövrierunfähig, nichts geht mehr.
Der alte Ford Truck aber prescht weiter.
Früher, als ich noch Neuwagen verkauft habe, sagten Kunden oft: “So viele Knöpfe und Schalter – das kann ich mir niemals merken.” Das war vor ca zehn Jahren. Heute gibt es kaum noch Schalter – dafür ein, zwei, drei Displays. Schwarze Flächen, in denen alles steckt: Klimaanlage, Navigation, Komfort, Entertainment. Versteckt in Ebenen, Menüs, Untermenüs.
Die vermeintliche Ruhe, die dieser Innenraum ausstrahlen soll, hält nur bis zum ersten Handgriff. Wenn ich mal eben die Sitzheizung anschalten oder die Temperatur ändern will – plötzlich suche ich mehr, als ich fahre. Wo ist die Außentemperatur? Die Drehzahlanzeige? Der Reifendruck? Sind die Assistenzsysteme überhaupt an?
Was Hersteller als “intuitiv” verkaufen – weil wir es angeblich von Smartphones gewohnt sind – entpuppt sich als Zerstreuung. Smartphone in der Hand ist im Straßenverkehr während der Fahrt verboten. Drei Displays vor der Nase, auf denen ich tippe und suche - das ist ok - lenkt mich nicht ab - eines der Assistenzsysteme wird es schon regeln, wenn ich während meines “Programmierversuchs” das Lenkrad verziehe und ganz langsam in den Gegenverkehr steure.
Provokante Aussage Nr 1: Aktuelle Fahrzeuge sind so wenig Autos, wie Smartphones Telefone sind. Wahrscheinlich wirft man mir jetzt vor, dass ich nicht mit der Zeit gehe, nicht offen bin für Neuerung und Weiterentwicklung. Dem ist nicht so. Ich mag die Digitalisierung. Sie eröffnet uns Welten und Möglichkeiten, die vor ein paar Jahren nicht vorstellbar waren. Und ich mag selbst bestimmtes Handeln. Das verschwindet jedoch immer mehr. Das Fahrzeug bremst, wenn ich laut Tacho und gescanntem Verkehrsschild zu schnell bin. Das Fahrzeug lenkt gegen, wenn ich vergesse zu blinken. Das Fahrzeug greift ein, wenn ich zu dicht auf das vorausfahrende Fahrzeug auffahre. Alles im Sinne der Sicherheit. Natürlich.
Was aber, wenn ich dadurch immer mehr das Lenkrad und die Verantwortung aus der Hand geben?
Provokante Aussage Nr 2: Wir, als Nutzer und Bediener, sind zu langsam in unserer Entwicklung und unserem Denken, um mit der Entwicklung und der Technik der Fahrzeuge mitzuhalten. Und - wir haben kaum noch eine Wahl. Was macht die 70-Jährige, die sich ein neues Auto kauft? Das Handbuch lesen? Welches Handbuch? Das digitale, das irgendwo auf der Website des Herstellers versteckt ist? Also ruft sie den Enkel. Der kann zwar noch nicht Auto fahren, aber dafür den Hupton programmieren.
Oder der 40-Jährige, der für die Sitzheizung jetzt ein Abo abschließen muss. Abo vergessen? Na ja, dann eben keine Klimaanlage diesen Monat. Nur das Standardpaket gebucht? Dann gibt’s an jeder Ampel, Werbung aufs Display.
Vielleicht ist es dann eben genau das, was uns an alten Fahrzeugen anzieht: Sie erinnern uns daran, dass es Zeiten gab, in denen es allein in unserer Verantwortung lag, dass Fahrzeug zu kontrollieren und dadurch jederzeit bewusst im Moment zu sein.
Fortschritt nimmt uns vieles ab – aber oft auch das, was uns wach hält und präsent sein lässt. Vielleicht brauchen wir alle ab und zu so einen kleinen EMP. Einen Augenblick,in dem alles ausgeht: die Displays, die Assistenten, die Ablenkungen. Und nur noch das bleibt, was wirklich zählt:
Du, die Straße, und das Gefühl, wieder selbst zu lenken.




















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